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  • AutorenbildClara Wiegand

"ich bin eine funktionierende Introvertierte" - Charlotte Cardin

Charlotte Cardin im Flutwelle Interview mit Clara Wiegand

credits: Aliocha Schneider

Mit Charlotte Cardins Musik lässt es sich ausgezeichnet in Herzschmerz und Tristesse baden. Gleichzeitig verliert sich ihr Sound aber nicht in Trübseligkeit, im Gegenteil, er sprüht nur so vor Selbstbewusstsein und Rebellion. Genregrenzen sind der 28-jährigen fremd. Mit ihrem Debütalbum Phoenix eroberte die kanadische Musikerin bereits 2021 die Herzen der Hörer:innen - inklusive meinem! Nun erschien im August ihr zweites Album 99 Nights. Im Interview hat sie mir verraten, wofür die 99 Nächte stehen, wie das Album entstanden ist und welche Rolle Jim Carrey in ihrem Leben spielt.


Hi Charlotte! Dein Album kommt schon morgen raus. Wie geht es dir?


Ich bin super aufgeregt und ich freue mich riesig es endlich mit der Welt teilen zu können. Es ist ein Album, das ich liebe und an dem ich besonders gerne gearbeitet habe.


Dein neues Album heißt 99 Nights und ist dein zweites Studioalbum. Dein erstes Phoenix wurde vor zweieinhalb Jahren veröffentlicht. Wie hat sich der Entstehungsprozess von 99 Nights zu dem von Phoenix unterschieden?


Es war ein komplett anderer Prozess. Beide Alben waren eine Art Therapie für mich, aber auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Bei Phoenix habe ich alte Wunden geöffnet und verarbeitet. 99 Nights hingegen habe ich in einem Sommer geschrieben, in dem ich in meinem Privatleben viel durchgemacht habe. Ich habe die Momente im Studio mit meinen Freunden, mit denen ich das Album geschrieben habe, genutzt, um dieser Realität zu entkommen. Es war eine schöne Zeit in welcher ich in einem sicheren Raum, umgeben von Freunden, einfach kreativ sein konnte. Das Album ist eine Art gesunde Therapie, es hat mir einfach ein gutes Gefühl gegeben. Aber man kann trotzdem noch diese Nostalgie hören, wegen dem, was ich zu dieser Zeit durchgemacht habe.

Ja, ich finde man kann wirklich diese therapeutische Seite im Album heraushören. Ich hatte beim Hören das Gefühl, dass es sehr persönliche Geschichten sind, die du erzählst. Inwieweit ist das Album wirklich autobiografisch?


Es hat mir dieses Mal wirklich Spaß gemacht, die Grenzen zu verwischen. Ich bin beim Schreiben der Songs viel in imaginäre Welten geflüchtet, so dass viele der Songs auf sehr realen und lebendigen Emotionen basieren. Ich habe diese Emotionen in Geschichten eingekapselt, die nicht unbedingt nur meine sind. Ich habe mich in die Lage anderer Leute versetzt und einige Songs aus der Perspektive meiner Freunde geschrieben. Wie ich bereits erwähnt habe, habe ich das Album mit einigen Freunden geschrieben, es war also ein sehr gemeinschaftlicher Prozess. Es ist also nicht super biografisch, wenn man sich die Fakten der Songs ansieht, sondern sehr persönlich, wenn man sich die Gefühle ansieht, die den Song ausgelöst haben.


Ich kann mir vorstellen, dass es sehr schön ist, wenn man so eine intensive Zeit mit Freunden verbringen und über ihre Geschichten singen kann. Das bringt einen noch viel näher zusammen.


Auf jeden Fall. Das sind besondere Momente. Man lernt so viel über andere Menschen, und beim Songwriting ist jeder super verletzlich. Musik und Songwriting bringt die Leute wirklich zusammen.


Der Titel deines neuen Albums ist 99 Nights. Wofür stehen diese Nächte?


Hauptsächlich stehen diese 99 Nächte für den Sommer, in dem die DNA, das Grundkonzept, des Albums entstanden ist und die meisten Songs geschrieben wurden. Außerdem, das habe ich aber erst nach der Entstehung des Albums herausgefunden, ist 99 eine Zahl, die sehr repräsentativ für ein zu Ende gehendes Kapitel und einen optimistischen Neubeginn eines neuen Kapitels ist. Auf dem Album gibt es dieses Gefühl der Hoffnung aber auch diese Nostalgie, von etwas, das zu Ende geht.

credits: Aliocha Schneider

Auf dem Album gibt es auch einen Song namens 99 Nights, in dem die Frage "How am I supposed to feel alive?" sehr präsent ist. Gibt es etwas, was du persönlich tust, um dich lebendiger zu fühlen?


Das ist wahrscheinlich eine kitschige Antwort, aber ich schreibe Musik. Es war schon immer etwas, das mir das Gefühl gegeben hat, dass ich bestimmte Emotionen auf den Punkt bringen konnte, die ich mit anderen Mitteln selbst nicht verstehen konnte. Manche Leute treiben Sport oder haben andere Hobbys, für mich war es immer Songwriting und Singen. Singen gibt mir das Gefühl, mit meinem tieferen Selbst in Kontakt zu sein.


Deshalb ist es wahrscheinlich auch so therapeutisch, über all diese Gefühle zu singen.


Ja, das glaube ich auch. Ich meine, so habe ich herausgefunden, dass ich Dinge ausdrücken kann, die ich sonst nie ausdrücken konnte, und ich denke, das war schon immer meine Art, bestimmte Dinge zu verarbeiten.


Auf Instagram hast du geteilt, dass die Backing-Vocals von 99 Nights von deinem Vater eingesungen wurden und ich habe in einem Interview von dir gelesen, dass du nicht aus einer sehr musikalischen Familie kommst. Wie und wann hast du angefangen Musik zu machen und inwiefern hat dich deine Familie dabei beeinflusst?


Ich komme aus einer Familie, die Musik schon immer geliebt hat, aber niemand macht Musik auf professioneller Ebene. Meine Eltern sind beide Wissenschaftler, aber ich bin in einem Haushalt aufgewachsen, in dem immer Musik lief. Für meine Mutter war es immer wichtig, dass meine Schwester und ich Musikunterricht bekamen. Als ich etwa 5 Jahre alt war, habe ich mit dem Klavierunterricht begonnen, aber das hat mir nicht wirklich gefallen. Meine Mutter hat dann vorgeschlagen ich solle doch mit dem Gesangsunterricht anfangen, weil ich immer gesungen habe. Also habe ich mit 7 Jahren angefangen, Gesangsunterricht zu nehmen. Ich liebte es, an etwas zu arbeiten, was nur mir gehört. Bis heute nehme ich immer noch Gesangsunterricht und arbeite an diesem Instrument und Handwerk.


Ich stelle mir das so toll vor, sein Instrument immer dabei zu haben.


Ja (lacht), es ist auf jeden Fall am praktischsten, damit zu reisen.

Um ein bisschen in das Album einzusteigen: auf dem Album gibt es den Song Enfer, in dem du Englisch und Französisch mischst. Welchen Teil von dir repräsentieren diese Sprachen und verbindest du verschiedene Emotionen mit ihnen?


Definitiv, ich habe das Gefühl, dass ich in den verschiedenen Sprachen unterschiedliche Emotionen ausdrücke. Ich bin hauptsächlich auf Französisch aufgewachsen, aber Englisch war auch immer ein großer Teil meines Lebens. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich bestimmte Dinge im Englischen ausdrücken kann, die ich im Französischen nicht so ausdrücken würde, und umgekehrt.


Ich mag auch deinen Song Confetti sehr, weil er so verletzlich ist. Du singst darüber, dass du in sozialen Situationen nicht richtig funktionierst. Wie gehst du mit diesen sozialen Situationen um, die du beschreibst?


Ich würde sagen, ich bin eine funktionierende Introvertierte. Ich bin in der Lage, mit solchen Situationen umzugehen. Es ist nur so, dass sie mir viel abverlangen. Immer wenn ich weiß, dass ich in einer sozialen Situation mit vielen Leuten reden muss, oder von vielen Leuten umgeben bin, muss ich sicherstellen, dass ich danach eine wirklich erholsame Auszeit nehme. Ich brauche einen Moment für mich selbst, an einem ruhigen Ort.


Quasi, um deine sozialen Batterien wieder aufzuladen.


Ja, genau das ist es!


Um auf einen anderen Song zu sprechen zu kommen, auf Jim Carrey singst du darüber, dass du ihn gerne heiraten möchtest. Warum gerade Jim Carrey?


Ich war schon immer ein Fan seiner Komödien und seiner Schauspielerei und dann habe ich seine inspirierende Seite entdeckt. Er hat viele Interviews und Reden darüber gehalten, wie unser Ego uns davon abhält, unser wahres Selbst wertzuschätzen und die Chancen zu ergreifen, die sich uns bieten. Das alles nur weil wir viel zu sehr davon geblendet sind, was wir denken, was andere Leute von uns halten. Die Idee von Jim Carrey war letztlich, dass er mein Lebensguru wird und mir hilft, dieses Ego loszuwerden, das mich seit Monaten runtergezogen hatte. Ich bin immer noch begeistert von diesem Thema und ich würde jedem empfehlen, sich seine Interviews anzuschauen!

Das werde ich auf jeden Fall tun! Der letzte Song auf deinem neuen Album heißt Next to You. Auf Instagram sagtest du zu dem Song, dass er besonders wichtig für dich ist. Kannst du erklären, warum?


Next to You ist sehr besonders für mich, weil es der persönlichste Song des Albums ist. Ich habe den Song als Liebesbrief an meine Heimatstadt geschrieben. Es ist ein Song darüber, dass man etwas loslassen muss, dass einem nicht den Raum gibt, den man zum Wachsen braucht. Ob das nun eine Person ist, die man hinter sich lassen muss, oder einen Ort oder einen Job oder eine Vorstellung, die man von jemandem hatte. Es ist letztendlich ein Song über das Loslassen und wie schwierig das sein kann. Es geht darum, dieser inneren Stimme zu folgen, die einem sagt, dass man loslassen muss. Und wenn du ein besserer Mensch werden willst, dann musst du das tun. Ich hatte das Gefühl, dass es ein guter Weg ist, das letzte Kapitel des Albums zu beenden.


Ich finde es ist die perfekte Art und Weise das Album abzuschließen. Wenn man das Album zu Ende hört, ist es wie als würde es sagen: Lass alles los, was dich zurückhält.


Das ist genau das, worum es geht!

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